Kotzebue, der Kosmopolitismus und die Weimarer Klassik – eine Polemik

von | 04/05/2021

Gastbeitrag von Johanna Hügel (Freiburg i.Br.)

Oder: Kampf der Giganten: Kotzebue versus die Weimarer Granden oder: Kotzebue und die ‚Wilden‘ – Der wilde Kotzebue

August von Kotzebue – ein Vagabund, ein Vaterlandsverräter, gar ein russischer Spion vielleicht? Ein trivialer Schmierfink, der durch Schund, Darstellung unsittlicher Dreierbeziehungen und einem verschwenderischen Umgang mit den Tränendrüsen völlig unverdient zum meistaufgeführten Bühnenautor um1800 avancierte? Nicht nur Sittlichkeit und Anstand verletzte Kotzebue, sondern auch Patriotismus und Ehrgefühl: wagte er es doch, den unter rechten Nationalisten vergötterten Turnvater Jahn zu verspotten und polemisch gegen die „Deutsche Nation“ zu wettern! Zu Recht strafte die Literaturwissenschaft diesen Schuft jahrzehntelang als persona non grata, der neben ihren Zeitgenossen Goethe und Schiller kein Platz im deutschen Literaturkanon gewährt wurde. Anlässlich dieses zu Ehren Kotzebues veranstalteten internationalen Picnics erlaube ich mir jedoch einen ketzerischen Happen zu präsentieren: wäre Kotzebue nicht ein viel interessanteres Beispiel für einen aufgeklärten Kosmopolitismus „from below“ als immer wieder die gleiche Leier vom erhabenen Weltbürgertum der Weimarer Granden?

Der „moralische Kosmopolitismus“ verzeichnet wie die Idee vom Weltbürgertum seine Hochzeit im Weimarer Diskurs der 1770er-1800er Jahre (Kleingeld 1999). Eine kurze Geschmacksprobe soll an dieser Stelle gegeben werden:

„Die Kosmopoliten führen den Nahmen der Weltbürger in der eigentlichsten und eminentesten Bedeutung. Denn sie betrachten alle Völker des Erdbodens als eben so viele Zweige einer einzigen Familie, und das Universum als einen Staat, worin sie mit unzähligen anderen vernünftigen Wesen Bürger sind, um unter allgemeinen Naturgesetzen die Vollkommenheit des Ganzen zu befördern, indem jedes nach seiner besonderen Art und Weise für seinen eigenen Wohlstand geschäftig ist.“ .

(Christoph Martin Wieland: Das Geheimnis des Kosmopoliten-Ordens, in: Wielands Gesammelte Schriften, hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1909, XV, S. 207-29, hier S. 212f.)

Unter seinen höchstgeschätzten Vertretern werden neben Wieland auch Goethe, Schiller, Kant, Herder, Schlegel gezählt – und dieses ganze Arsenal der deutschen Aufklärung wird unter dem Schlagwort „Kosmopolitismus“ seit den 1990er Jahren wieder als Konzept aufgewärmt, in Stellung gebracht und als Arznei gegen aufkeimende nationale Gelüste gehandelt. Während ich in der Sache vereint mit Nußbaum, Habermas und Kleingeld streite, möchte ich doch meine periphere Stimme erheben, um bei den Mitteln meine Bedenken zu artikulieren. Ist es nicht so, dass der gleiche „moralische Kosmopolitismus“, der von einem Kant, Wieland oder Goethe im Namen der Aufklärung vorgetragen wird, und Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit aller Menschen und Völker unter dem Banner von Vernunft und Rationalität propagiert, durch die Hintertür erst die „Wilden“, „Unsittlichen“ und „Unzivilisierten“ produziert (denen diese Privilegien dann doch verwehrt bleiben)? Am Ende des Tages bleibt der moralische Kosmopolitismus der Weimarer Klassiker ein theoretischer: wer aus ihrer illustren Sicht nicht zureichend von seinem Verstande Gebrauch machte – die soziale Unterschicht, von der bürgerlichen Moral Verstoßene, das weibliche Geschlecht, doch auch die meisten nicht-europäischen Gesellschaften, am Ende wohl doch der deutlich größere Teil der Menschheit, es rette sich wer kann! – der wurde kurzerhand wieder aus der neu gegründeten vermeintlich universalistisch gesinnten Brüdergemeinde der sittlich vollendeten männlichen, europäischen, weißen, sich bürgerlich tugendhaft gebarenden und uns alle mit ihrem Intellekt erleuchtenden Weltbevölkerung ausgeschlossen.

August von Kotzebue hingegen – der den Begriff des „Weltbürgers“ und des „Kosmopoliten“ möglicherweise kein einziges Mal selbst in den Mund nahm und zur gleichen Zeit in Weimar verkehrte – gäbe meiner Ansicht nach ein ganz hervorragendes Beispiel eines „Cosmopolitanism from below“ ab. Wem es nicht reicht, dass Kotzebue von dem Burschenschafter Carl Ludwig Sand ermordet wurde, da er ihn für einen „Landesverräther“ und „Verführer der Jugend“ hielt, dem möchte ich hier mein Plädoyer für „Kotzebue vs. Die Weimarer Klassik“ in drei Argumenten vortragen:

Erstens: Im Vergleich zu den über ihn Naserümpfenden war Kotzebue lange nicht so erfüllt von Standesdünkel, Snobismus und bürgerlicher Sittenwächterei wie die bekanntere Hälfte von Weimar. In sozialer Hinsicht weisen seine Stücke eindeutig eine hohe Integrationskraft auf, wie seine überaus große Beliebtheit auf der Bühne zweifelsfrei belegt: bis zu zehnmal häufiger als Goethe wurden Kotzebues Stücke auf den deutschen Bühnen zwischen 1780 und 1880 gespielt. Was nützt ein elitärer Kosmopolitismus der intellektuellen Bildungseliten (wobei bitte nur der europäische Kanon der Aufklärung als wahrhaftige Bildung zählt!)? Ist „Theater für alle“, sowie das sichtbar machen von Lebensentwürfen jenseits des bürgerlichen Tugendkanons nicht auch ein kosmopolitischer Beitrag zu sozialer Diversität und Toleranz?

Zweitens: Während die vermeintlich so kosmopolitisch gesinnten Weimarer Granden am Ende des Stückes dann doch verdächtig oft „den Trieb zum Vaterlande“ zum theuersten aller Bande erklären, überrascht es folglich vielleicht doch weniger, dass Goethe, Wieland und Schiller nicht nur von der Literaturgeschichte zu Helden und Aushängeschildern der deutschen Nation erklärt wurden. Würde sich ein vermeintlicher Vaterlandsverräter, leidenschaftlicher Kritiker nationalistischer Umtriebe und Polemiker gegen deutschen Dünkel demgegenüber nicht ganz hervorragend als Beispiel für einen wahrhaft aufgeklärten Kosmopolitismus eignen?

Drittens: Was nützt ein Lippenbekenntnis zum Weltbürgertum, wenn am Ende doch nur Louise und Ferdinand auf der deutschen Bühne repräsentiert werden? Von Kotzebues 230 Stücken weisen immerhin 10% einen nicht nur sozial, sondern auch kulturell sehr diversen Figurenkanon auf. In Bezug auf sein Stück „Die Negersclaven“ (1796), in dem er kritisch den Kolonialismus verhandelt, wendete der Direktor des Berliner Schauspielhauses ein, das Stücke würde vermutlich aufgrund der hohen Anzahl an Schwarzen Figuren vom Publikum abgelehnt werden (es wurde dennoch aufgeführt, allerdings mit größerem Erfolg auf englischen Bühnen). Ist das nun „unsittlich“ oder nicht vielleicht eher kosmopolitisch?

Ein Hoch auf den Vaterlandsverrat, die Schundliteratur und den Verstoß gegen die bürgerliche Norm! Avantgarde war schließlich zu allen Zeiten eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack! Je nachdem, welchen Bildungsidealen der Lesende nacheifert, hat doch auch die höchste Hochkultur ihre Tiefen. Kotzebue ist zwar auch immer noch ein weißer Mann – doch erstens soll es an dieser Stelle nicht um Identitätspolitik gehen, zweitens sind auch diese herzlich willkommen, sich auf die Seite der von Aufklärung und bürgerlicher Norm ausgegrenzten und um Sichtbarkeit und Handlungsfähigkeit ringenden Mehrheitsbevölkerung zu schlagen und drittens muss man ja schließlich irgendwo mal anfangen mit der Aufklärung. Zu meiner Ehrenrettung kann ich lediglich bekennen, eine Frau zu sein, die kein einziges von Kotzebues Stücken von vorne bis hinten durchgelesen hat und sich zu dieser Eskapade allein von ihrem Gefühl hat leiten lassen. Wenn Sie nun aus Mitleid oder Zorn über dieses triviale Geschreibsel den Tränen freien Lauf lassen, so ist genau das passend – auf Kotzebues Tränen!

Weiterführende Literatur zu Weimar und Kosmopolitismus:

Andrea Albrecht: Vom „wahren, weltbürgerlichen Sinne“. Goethe und die Kosmopolitismusdebatte seiner Zeit, in: Goethe-Jahrbuch 120 (2009), S. 90-102;
Pauline Kleingeld, Brown, Eric: „Cosmopolitanism“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall 2014 Edition;
Pauline Kleingeld: “Six Varieties of Cosmopolitanism in Late Eighteenth-Century Germany,” Journal of the History of Ideas, 60 (1999), S. 505–524;
Hendrik Birus: Goethes Idee der Weltliteratur. Eine historische Vergegenwärtigung (2004), [Goethezeitportal];
John K. Noyes: Goethes Weg in die Kolonien. Bildung, Mobilität und das Recht auf den Kolonialismus in der Spätaufklärung, in: Dunker, Axel: (Post-)Kolonialismus und die deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld 2005, S. 97-119;
Arjun Appadurai: Cosmopolitan from Below. Some Ethical Lessons from the Slums of Mumbai. In: Ders.: The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition, New York 2013.

Weiterführende Lektüren zur Figur des ‚Wilden‘ bei Kotzebue:

Birgit Tautz: Translating the World: Toward a New History of German Literature Around 1800. University Park, PA 2018;
Chunjie Zhang: Transculturality and German Discourse in the Age of European Colonialism. Evanston, IL 2017;
Selena Couture, Alexander Dick: Introduction. In: Dies. (Hg.), Richard Brinsley Sheridan: Pizarro. Peterborough, Ontario 2017, S. 11-57;
Martina Klemm: Kotzebue und die Kolonien. Konfigurationen des Fremden und Exotischen in der deutschen Unterhaltungsdramatik um 1800 am Beispiel von August von Kotzebue. (Diss.) Basel 2014 [doi: 10.5451/unibas-006708625];
Sigrid Köhler: Beautiful Black Soul? The Racial Matrix of White Aesthetics (Reading Kotzebue against Kleist). In: Image & Narrative 14/3 (2013), S. 34-45;
Barbara Riesche: Schöne Mohrinnen, edle Sklaven, schwarze Rächer: Schwarzendarstellung und Sklavereithematik im deutschen Unterhaltungstheater (1770-1814). Hannover 2010;
Susanne Zantop: Colonial Fantasies: Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany, 1770-1870. Durham, NC, London 1997 (deutsche Ausgabe: Berlin 1999);
Maris Saagpakk: Die koloniale Liebe – zur Darstellung der nicht standesgemäßen Beziehungen in den Revaler Stücken August von Kotzebues. In: Klaus Gerlach, Harry Liivrand, and Kristel Pappel (Hg.), August von Kotzebue im estnisch-deutschen Dialog. Hannover: Wehrhahn, 2016.

 

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