Warum Kotzebue lesen?

von | 23/05/2021

Gastbeitrag von Fabian Mauch (Stuttgart)

 

Die Frage mag zunächst trivial klingen – zumal im Rahmen einer Zusammenkunft von Kotzebue-Forschenden gestellt, für die sich die Frage, ob Kotzebue gelesen werden sollte, wohl erübrigt. Warum er jedoch gelesen werden sollte, das ist schon eine weniger triviale Frage, deren Beantwortung von einigen grundlegenden Voraussetzungen abhängt, die die eigene Lektürepraxis steuern und darüber entscheiden, welches Bild Kotzebues für einen im Vordergrund steht.

Warum Kotzebue lesen? Dafür kann es – allgemein gesagt – drei Gründe geben.

So kann man, erstens, Kotzebue aus literatur- und diskursgeschichtlichem Interesse lesen. August von Kotzebue war bekanntlich einer der beliebtesten – und dementsprechend erfolgreichsten – Theaterautoren und Unterhaltungsschriftsteller seiner Zeit. Seine Werke geben Aufschluss über den damaligen Publikumsgeschmack – gemeint ist der Geschmack des breiten Publikums, das, was man heute als den gehobenen Mainstream bezeichnen würde – und damit über die europäische Theaterkultur des 18. Jahrhunderts überhaupt. Dieses geschichtliche Interesse ist gewissermaßen neutral, nicht primär an Urteilen über Inhalt und Qualität von Kotzebues Werken interessiert, sondern untersucht diese als Phänomene im soziokulturellen Kontext.

Man kann Kotzebue, zweitens, aber auch mit einer sozusagen provokatorischen Absicht lesen. Eine solche, bewusste Provokation war es beispielsweise, als Nietzsche 1878 in Menschliches, Allzumenschliches Kotzebue das »eigentliche Theatertalent der Deutschen«[1] nannte. Darin lag nicht nur eine Herausforderung des traditionellen Kanons – der Klassik und der Romantik als des Inbegriffes und Höhepunktes der deutschen Literatur; es lag darin auch eine Infragestellung des Konzeptes der Nationalliteratur, für die sich Kotzebue, ein Weltmann, der nacheinander im Dienst verschiedener europäischer Höfe stand und zudem ein ausgesprochener Kritiker Goethes war, der also in jeder Hinsicht so gar nicht den Typus des ›deutschen romantischen Volksdichters‹ verkörperte, kaum vereinnahmen ließ.

In beiden Fällen ist das Interesse an Kotzebue jedoch lediglich ein sekundäres: im ersten Fall hofft man, durch ihn etwas über seine Zeit zu erfahren; im zweiten ist er Vehikel für die eigene Kritik am bestehenden Kanon und Literaturbegriff.

Tatsächlich ist die Geschichte der Kotzebue-Forschung immer auch ein Stück weit der Versuch gewesen, den bereits zu Lebzeiten verfemten und diskreditierten Autor zu rehabilitieren – oft, wie der Fall Peter Kaedings zeigt, durch eine entsprechende Abwertung Goethes und der romantischen Tradition. Es ist indes nicht die Aufgabe der Literaturwissenschaft, Werturteile zu formulieren. Und auch in der Nichtbeachtung liegt in diesem Fall ein Werturteil. Behandelte man Kotzebue nicht gerade mit einer gnädigen Indifferenz (Benno von Wiese), so ging und geht man – schon die einschlägigen Literaturlexika geben davon Zeugnis – mehr oder weniger stillschweigend über ihn hinweg. Ein genuines Interesse an Kotzebue, so macht es jedenfalls den Eindruck, besteht nicht. Erst in der jüngsten Zeit scheint sich daran allmählich etwas zu ändern – wozu neben der erfreulich ausgewogenen Biografie Axel Schröters sicherlich die wachsende Anzahl an Neuausgaben seiner Werke im Wehrhahn-Verlag entscheidend beiträgt.

Und damit komme ich zur letzten Möglichkeit. Denn Kotzebue lässt sich zunächst auch einfach – um Kotzebue willen lesen. Kotzebue repräsentiert eine Literaturgattung, die man heute irgendwo zwischen gehobener Unterhaltung und konventionellem Kitsch verorten würde. Seine Werke bedienen damit sicherlich ein anderes Bedürfnis als die Klassik oder die Romantik. Es geht indes nicht darum, das eine zugunsten des anderen ab- (respektive auf-)zuwerten. Letztlich ist es – wie André Georgi zu Recht anmerkt – dieses Ausspielen der ›hohen‹ gegenüber der ›niederen‹ Literatur selbst, die eine unvoreingenommene Rezeption Kotzebues bis heute erschwert. Allzu leicht dominiert für uns in der Rückschau das ›Gehobene‹, die ›eigentliche‹ Literatur, als hätte es das andere, das ›Triviale‹ und Konventionelle kaum gegeben. Je größer der geschichtliche Abstand, desto stärker dieser Eindruck. Über die nachvollziehbaren Gründe dieser Verzerrung ließe sich sicherlich ausgiebig diskutieren. Entscheidend ist jedoch, dass beides – das Gehobene und das Triviale – zusammengehört, sich nicht ausschließt, sondern (heute wir vor 250 Jahren) eine komplementäre Einheit bildet, dass beides seine je eigene Existenzberechtigung und seine eigenen Adressatenkreise hat, die sich durchaus überschneiden können. Das anzuerkennen, ist nicht nur ein wichtiger Schritt, den eigenen Literaturbegriff zu hinterfragen; es kann einem auch dazu führen, dass sich einem neue, zuvor vielleicht gar nicht ins Auge gefasste Quellen der Unterhaltung erschließen. Und Literatur war, was sie auch sonst gewesen sein mag, schließlich zu allen Zeiten vor allem das: eine Form der Unterhaltung. Ich behaupte, dass man Kotzebues Werke auch heute noch mit Genuss lesen kann, wenn man sich auf sie als das einlässt, was sie sind und nicht versucht, ihn zu etwas zu machen, das er nicht war und nicht sein wollte. Dann entdeckt man, neben Kotzebue dem Dramatiker, plötzlich auch Kotzebue den Essayisten oder Kotzebue den Kritiker und Rezenten. Und der war, wenn es ihm, zugegeben, auch an einer vergleichbaren philosophischen Tiefe mangelte, zuweilen durchaus unterhaltsamer als Goethe.


[1] Friedrich Nietzsche: Menschliches Allzumenschliches II, 170 [Die Deutschen im Theater]. In: Kritische Studienausgabe, Bd. 2. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1999, S. 448-449, hier: S. 448.

Weitere Lektüre:

August von Kotzebue, Ausgewählte Kleine Prosa. Band 1: Erzählungen und Novellen Essays, Vermischte Gedanken und Skizzen. Hg. v. Fabian Mauch. Hannover: Wehrhahn, 2018.

August von Kotzebue, Ausgewählte Kleine Prosa. Band 2: Kommentare und Kritiken. Übersetzungen. Aus dem Nachlass. Hg. v. Fabian Mauch. Hannover: Wehrhahn, 2020.

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