Erzählerische »Jugendsünden«? Zu Kotzebues ersten Publikationen

von | 16/04/2021

Ein Gastbeitrag von Max Graff (Heidelberg)

An den Stücken des ›Theatergenies‹ August von Kotzebue kam der geneigte Theaterbesucher um 1800 kaum vorbei. Seine ersten Schritte im literarischen Feld aber unternahm Kotzebue nicht als Bühnenautor, sondern als Erzähler. Tatsächlich erschienen in den Jahren 1780 und 1781 anonym mehrere epische Texte, die als seine frühesten heute bekannten Publikationen gelten müssen, in der Forschung aber bislang kaum zur Kenntnis genommen wurden. Es handelt sich im Einzelnen um die balladenhafte Verserzählung Ralph und Guido, erschienen im Oktober 1780 in Wielands Teutschem Merkur, den schmalen Band Er und Sie. Vier romantische Gedichte, der 1781 in Eisenach erschien und neben dem Versepos Theodebald und Amelinde drei Balladen enthält, sowie die etwas umfangreichere Prosaerzählung Ich, eine Geschichte in Fragmenten, die ebenfalls 1781 den ersten Band des Ganymed für die Lesewelt eröffnete.[1]

Aufschlussreich sind diese Texte nun nicht nur im Sinne einer vollständigen Erschließung und Erforschung des Kotzebue’schen Oeuvres; im Frühwerk manifestieren sich vielmehr einige Tendenzen, die womöglich auch den Blick auf das Gesamtwerk zu schärfen vermögen.

  1. In Mein literärischer Lebenslauf (1796) bekennt sich Kotzebue freimütig zu den literarischen Vorbildern seiner Jugendzeit: Neben Goethe und Wieland nennt er etwa seinen Onkel und Lehrer Johann Karl August Musäus (1735-1787) und erfolgreiche Zeitgenossen wie Johann Christian Brandes (1735-1799) oder Johann Timotheus Hermes (1738-1821).[2] Seine ersten dichterischen Versuche versteht Kotzebue dann auch explizit als wenig originelle Imitationen seiner Idole. Das gilt noch für die ersten Publikationen: Das Ritterepos Theodebald und Amelinde imitiert in Stil und Ton ganz offenkundig Wielands Oberon (1780), Ich, eine Geschichte in Fragmenten ist der Versuch, den Duktus und die Erzählweise von Musäus’ Physiognomischen Reisen (1778-1779) nachzuahmen. Ganz bewusst knüpft Kotzebue also an bekannte und erfolgreiche Muster an.
  2. Damit eng verknüpft ist eine zweite Beobachtung: Kotzebue bedient sich nicht nur literarischer Vorlagen, sondern geht auch dezidiert intertextuell vor. Theodebald und Amelinde greift recht frei auf Grimmelshausens legendenhaften Roman Dietwalt und Amelinde (1670) zurück, in seinen Balladen knüpft Kotzebue lose an die Figuren- und Motivwelt des Ossian an, und in Ich, eine Geschichte in Fragmenten ist die Nacherzählung einer schlüpfrigen Versnovelle La Fontaines (Joconde, nach Ariost) integriert. Ich spielt zudem mit Werther-Reminiszenzen, rekurriert wiederholt nicht nur auf die Erfolgsromane Johann Martin Millers (1750-1814), sondern auch auf alle möglichen anderen zeitgenössischen Publikationen aus verschiedensten Bereichen. Ganz offensichtlich präsentiert sich hier also – wenn auch anonym – ein junger, überaus belesener, traditionsbewusster Autor der literarischen Öffentlichkeit, der sich zudem recht unumwunden bei erfolgreichen Kollegen bedient.
  3. Dass diese imitatio und die intertextuellen Bezüge durchaus auch einen ironischen, ja satirisch-parodistischen Impetus haben können, belegt eindrücklich Ich, eine Geschichte in Fragmenten: Zum Text gehört ein »Patriotischer Nachtrag«, der direkt einen rezenten Wieland-Text parodiert. Wieland hatte u. a. einen Plan zur Gründung einer deutschen Akademie entworfen; Kotzebues (bisweilen penetrant witziger) Erzähler macht daraus den Plan einer »Damenakademie«, die von den Südseeinseln ›importierte‹ Frauen für den deutschen Heiratsmarkt vorbereiten soll – was, ganz nebenbei, das mehr als fragwürdige Frauenbild von Ich erahnen lässt. In rascher Szenenfolge und satirischer Zuspitzung umreißt der Text selbst eine Fülle vermeintlicher weiblicher Laster. Vor dieser Folie lassen sich jene Passagen, die ostentativ auf Goethes Werther oder Millers Romane Bezug nehmen, auch als Literatursatire lesen.

In seinen frühen Texten erscheint Kotzebue somit als vielseitiger, durchaus effektvoller, jedenfalls mit der Literatur seiner Zeit bestens vertrauter Erzähler. Das in bio-bibliographischen Beiträgen oft pauschal abgewertete und in der Folge vernachlässigte Frühwerk hält vielleicht keine literarischen Sternstunden bereit, fordert aber gleichwohl zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit Kotzebues Epik, seinem Traditionsverhalten und Ironiesignalen in seinem Werk insgesamt heraus.

[1] Vgl. [August von Kotzebue], Ralph und Guido, in: Der Teutsche Merkur vom Jahr 1780, hg. v. Christoph Martin Wieland, Viertes Vierteljahr [Oktober 1780], Weimar 1780, S. 3-8 (mit der Autorangabe »K*******«); [August von Kotzebue, Er und Sie. Vier romantische Gedichte, Eisenach: Johann Georg Ernst Wittekindt, 1781 (VD18 11185112); [August von Kotzebue], Ich, eine Geschichte in Fragmenten, zu Nuz und Frommen der mannbaren Jugend, an’s Licht gebracht von mir selbst, in: Ganymed für die Lesewelt 1, Eisenach: Johann Georg Ernst Wittekindt 1781, S. 1-100. Ich erschien zudem als Separatdruck: [August von Kotzebue], Ich, eine Geschichte in Fragmenten, zu Nuz und Frommen der mannbaren Jugend, an’s Licht gebracht von mir selbst, Eisenach: Johann Georg Ernst Wittekindt, 1781. – Vgl. hierzu und zum Folgenden August von Kotzebue, Er und Sie. Vier romantische Gedichte, mit einem Nachwort hg. v. M. G., Hannover 2020 sowie ders., Ich, eine Geschichte in Fragmenten, mit einem Nachwort hg. v. M. G., Hannover 2021.

[2] Vgl. August von Kotzebue, Mein literärischer Lebenslauf, in: Die jüngsten Kinder meiner Laune 5, Leipzig 1796, S. 123-243, hier bes. S. 161-206. Das im Titel verwendete Zitat, in dem Kotzebue seine frühen Texte als »Jugendsünden« bezeichnet, findet sich ebd., S. 202.

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