Quelle: Ottokar [d.i. Jakob Glatz][1]: „Freymüthige Bemerkungen eines Ungars über sein Vaterland. Auf einer Reise durch einige Provinzen desselben.“[2] In: Der Neue Teutsche Merkur vom Jahre 1798. Hg.v. C. M. Wieland. Erster Band. Weimar 1798. 1. Stück. Januar 1798, S. 40-57; hier S. 40, 46-49, 50.[3]
1. Deutsches Theater in Presburg. Sommertheater daselbft. Ungarische Schauspielergesellschaft in Pesth. Theatralischer Geist in Ungarn.
Unstreitig ist Presburg in jeder Hinsicht die erste, vorzüglichste Stadt in Ungarn. […]
Kotzebue steht hier als theatralischer Dichter allgemein in großem Ansehen, und das Schauspielhaus ist sicher voll, wenn eines von seinen Stücken gegeben wird. Auch sind die Eindrücke stark; welche sie auf die Zuschauer machen. Ganz gewiß werden manche Herren ihr Wehe über den Geschmack der Presburger ausrufen; ob mit Recht? darüber wage ich kein entscheidendes Urtheil. Wahr ist’s, daß fast keines von Kotzebue’s Kunstprodukten ganz frey von ästhetischen Flecken ist; wahr, daß viele von denselben der gröbern Sinnlichkeit das Wort reden, der Moralität entgegen sind, und besonders der weiblichen Sittsamkeit zu nahe treten; wahr, daß man von dem Eindruck, den sie machen, keineswegs auf ihre Güte schließen kann, da sehr oft ein unverständliches, kauderwälsches Kanzelgeschwätz einem großen Theil der Gemeinde Thränen erpreßt; wahr endlich, daß der Geschmacksrichter, der bey der Beurtheilung schöner Kunstwerke als solcher, nicht auf ihre Wirkung, sondern bloß auf ihre Form und darauf zu sehen hat, daß sie den Forderungen des reinen Geschmacks Genüge leisten, mit den Kindern der fruchtbaren Kotzebueschen Muse nie ganz zufrieden seyn kann. Indeß scheint es mir doch ausgemacht zu seyn, daß sie unter die bessern, ja besten Produkte Teutschlands, so wie es ist, gehören; daß das Publikum, bey welchem sie Glück machen, wenn nicht auf der höchsten, doch auf einer mittlern Stufe ästhetischer Bildung steht; daß viele tausende denselben manche angenehme Stunden, manche gute Gesinnung, manchen edlen Entschluß, zu danken haben, und daß gewisse Rezensenten nicht unpartheyisch und gerecht in Anerkennung ihrer Vorzüge sind . Ich befand mich einmal in einer Gesellschaft, wo von Kotzebue und seinen dramatischen Werken viel gesprochen wurde. Mit Enthusiasmus wurden diese gepriesen, und mit dem Prädikat unübertrefflich beehrt. Nur Einer von den Anwesenden wollte nicht in das Lob des Zirkels einstimmen, sondern brachte dagegen alles vor, was bereits lange in der A. Lit. Zeit.[4] gedruckt steht. Die Uebrigen, welche diese kritische Zeitschrift nicht gelesen haben mochten, und bloß nach ihrem individuellen Gefühle zu urtheilen schienen, befremdete der Tadel des Einen nicht wenig, sie erwiederten ihn mit einem spottenden Lächeln, und da er kein Ende machte, stand einer von den Anwesenden auf, und rief mit einem bittern Tone aus: „Wen Kotzebue’s Stücke nicht rühren, der hat entweder ein steinhartes, oder ein so weiches Herz, daß kein einziger Eindruck haften kann!“ Die Uebrigen gaben ihm auf verschiedene Weise ihren Beyfall zu erkennen. – Ueberhaupt würde man in allen ungarischen Städten, wo man etwas von Schauspielern weiß, auch bey Menschen, denen man einen gebildeten Geschmack nicht absprechen kann, sich in den Verdacht der Gefühllosigkeit, und des Mangels an ästhetischem Sinne bringen, wenn man sich tadelnde Urtheile über Kotzebue’s dramatische Produkte erlaubte. Ich hörte in manchem Zirkel lange Stellen aus denselben herdeklamiren – und einmal hatte ich Gelegenheit, in der Ferne die Unterhaltung einiger nicht ungebildeten Mädchen zu belauschen, die ganz zwanglos ihren Gefühlen freyen Lauf ließen, und alles treuherzig hererzählten, was ihnen in der Sonnenjungfrau sehr gefallen habe. Eine von ihnen versicherte, daß besonders die Worte der Kora: ,,Ist es denn Schande Mutter zu seyn?“ einen tiefen Eindruck auf sie gemacht hätten. Sie wiederholte mit einer sanften, herzlichen Stimme der man es deutlich ansah, daß sie der Ausdruck eines starken Gefühls war, diese Stelle einigemal.
Nicht nur die theatralischen, sondern auch die übrigen Schriften Kotzebue’s, z. B., die jüngsten Kinder meiner Laune, und die Leiden der Ordenbergischen Familie,[5] werden in Presburg stark gelesen. […]
Aus dem Teutschen, Französischen und Englischen sind mehrere Stücke ins Ungarische übersetzt worden, besonders manche von den Produkten Kotzebue’s, auch etwas von Göthe. Die ersten wurden immer mit lautem Beyfall aufgenommen.
[1] Der Pädagoge und Schriftsteller Jakob Glatz (1776-1831), der aus der Zipser Gespanschaft in Oberungarn stammte, besuchte die protestantischen Lyzeen in Käsmark, in Miskolcz, wo er die ungarische Sprache erlernte, und ab 1793 in Preßburg. Dort gründete er eine „deutsche Gesellschaft“. Ein von ihm verfasstes kleineres Drama wurde im Preßburger Theater aufgeführt. 1796 begab er sich nach Jena, um Theologie und Philosophie, unter anderem bei Fichte, Schelling und A. W. Schlegel, zu studieren. Zum Zeitpunkt der Abfassung des vorliegenden Textes war er an der Erziehungsanstalt Salzmanns in Schnepfenthal tätig (1797-1804), wo auch einer der Söhne Kotzebues unterrichtet worden war. Hier begann seine Tätigkeit als moralischer Jugendschriftsteller. Sein erstes Werk waren aber die 1799 anonym in Gotha erschienenen „Freymüthigen Bemerkungen eines Ungars über sein Vaterland“. 1804 übersiedelte Glatz nach Wien, wo er eine Stelle als Lehrer an der protestantischen Schule antrat. Damit begann eine berufliche Karriere, die ihn bis auf die Höhe eines angesehenen Konsistorialrats brachte. 1824 kehrte er nach Preßburg zurück, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte.
[2] Diese Fragmente werden in einer eigenen Schrift mehr Ausführlichkeit erhalten. (Anm. im Original).
[3] Die Jakob Glatz zugeschriebene anonyme Reisebeschreibung erschien 1799 selbstständig; das Vorwort ist auf Juli 1798 datiert. Der vorliegende Aufsatz findet sich wieder in Kap. XXI: „Presburg. Theaterwesen und Lectüre. Ungrisches Nationaltheater in Pesth. Litterärischer Anzeiger für Ungarn. Wünsche“, S. 313-338.
[4] Allgemeine Literaturzeitung (Jena).
[5] „Die Leiden der Ortenbergischen Familie“, Jugendwerk August von Kotzebue, dessen erster Teil 1785 in St. Petersburg erschienen war. Die vollständige Ausgabe in zwei Teilen kam 1787 in Leipzig heraus. Der Roman war sehr beliebt und erlebte mehrere Auflagen.