Man weine nicht! – Kotzebue’s Thränen. Eine Glosse

von | 04/05/2021

Ist Affektkontrolle für die Empfindung eines interesselosen Wohlgefallens wirklich unabdingbar? Ist eine Wirkungsästhetik unter Umgehung der Gefühlskomponente vorstellbar?

Zahlreiche Rezensenten und Kritiker verübelten es Kotzebue, dass er Affekte nach Belieben einsetzte und ihre Wirkung gezielt kalkulierte bzw. kontrollierte, so jedenfalls der Eindruck vieler Theaterbesucher, wie Wilhelm von Humboldts oder Nikolaj Karamzins. Peter Kaeding nannte Kotzebue halb despektierlich, halb bewundernd „Tränenhydrauliker“.

Selbst Goethe gibt zu, dass er sich bei der Lektüre des Merkwürdigsten Jahres verschluckte.

Darf man bei Goethe eigentlich lachen? Oder Weinen? Oder erschüttert sein? Oder Mitleid haben?

Kotzebue berichtet über seine ersten Tränen der Rührung, die er als Kind bei der Lektüre von Romeo und Julia vergossen hatte.

Den Text hatte er im dritten Band der Abendstunden in lehrreichen und anmuthigen Erzählungen gefunden, wo er unter dem Titel „Der erdichtete Tod. Eine italiänische Geschichte“ abgedruckt ist (2. Auflage: 1764, ab S. 250).

In seinem1796 niedergeschrieben autobiographischen Text Mein litterarischer Lebenslauf, der im fünften Band von Die jüngsten Kinder meiner Laune (auf dem Titelblatt auf 1797 vordatiert) abgedruckt wurde, erinnert sich Kotzebue (S. 91 und S. 92):

„Das Erste, dessen ich mich lebhaft entsinne, und dessen zahlreiche Bände ich, nach oben beschriebener Weise auf eine Bank gekauert, gelesen und wieder gelesen habe, waren die damals beliebten Abendstunden, eine Sammlung kleiner Erzählungen aus verschiedenen Sprachen, auf deren Titelblatt ein schlafender Hund zu schauen ist, mit der Umschrift: non omnibus dormio. Ich weiß nicht, worauf der Schlummer dieses Hundes sich bezog, aber das weiß ich, daß ich noch jetzt an keinem schlafenden Hunde vorübergehe, ohne an die Abendstunden zu denken. Diejenige Erzählung in jener Sammlung, welche den ersten großen Eindruck auf mich machte, mir die ersten Thränen der Rührung kostete, war die Geschichte von Romeo und Julie, aus welcher Weisse nachher den Stoff zu seinem Trauerspiele nahm. Sie erschütterte mich so tief, daß vielleicht damals schon der erste Grund zu meiner Vorliebe für rührende Erzählungen in mir gelegt wurde.“

Gefühle können wie schlafende Tempelritterhunde sein, die gar nicht wirklich schlafen, sondern unter der Oberfläche des äußeren Scheins hellwach und wachsam sind.

Mir ist das tatsächlich auch selbst passiert; und zwar als ich Kotzebues Das merkwürdigste Jahr meines Lebens meinem Mann vorgelesen habe. Das war übrigens der erste Text Kotzebues, den wir gemeinsam gelesen haben. Keine schlechte Lektüre für einen Einstieg in die Kotzebuewelten – kann ich nur empfehlen.

Die meisten Tränen wurden zweifelsohne überall dort vergossen, wo und wann immer Kotzebues Schauspiel Menschenhaß und Reue aufgeführt wurde. Das Stück war gerade einmal drei Jahre auf den Brettern, als sein Verfasser bereits das Tränenvergießen als gemeinschaftsstiftendes Merkmal seines Publikums adressieren konnte. In seiner Flucht nach Paris schließt er gewissermaßen einen Tränenpakt mit seiner Leserschaft:

„Gute Menschen! die ihr zuweilen sanfte Thränen in meinen Schauspielen vergossen habt, wenn ich ein kleines Verdienst um euch mir erwarb, so lohnt mir das jezt durch eine Thräne um meine gute Friederike! […] Gott behüte euch alle für einem solchen Verlust! kommt es aber mit euch auch einmal dahin, so sollt ihr mich auch nicht vergebens um eine Thräne des Mitleids bitten.“

In einer Reminiszenz an seinen Freund Ludwig Ferdinand Huber aus dem Jahr 1818 kreiert Kotzebue ein recht eindrückliches Bild, in dem seine vergossenen Tränen eine besondere Rolle spielen. Dankbar erinnert sich Kotzebue, dass sein verstorbener Freund ihm zu Lebzeiten viele Blumen auf den Weg gestreut habe, die nach Hubers Tod bedauerlicherweise abgewelkt seien. Er gab aber seiner Hoffnung Ausdruck, dass er mit seinen Tränen der Erinnerung, die verdorrten Blumen wieder zum Leben erwecken könne.

Dieses Jahr finden die Maifeiertage und das orthodoxe Ostern zur gleichen Zeit statt. Der Festmontag fällt auf den 3. Mai – den 260. Geburtstag August von Kotzebue. Ich freue mich, dass wir uns heute aus diesem Anlass zusammengefunden haben und danke Ihnen dafür, dass Sie der Einladung zum Virtuellen Picknick gefolgt sind.

Ich möchte nun auf den Jubilar mit einem Glas „Kotzebue’s Thränen“ anstoßen und das Wort an den nächsten Picknick-Teilnehmer reichen.

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